Pfeile und Bogen des indischen Subkontinents

Vorwort

„Indien – Lockende Ferne“ betitelte der österreichische Reiseschriftsteller Max Reisch den Bericht seiner 1933 unternommenen Motorradreise, die ihn von Wien nach Lahore, Delhi, Bombay und zurück führte. Wie der junge Geographiestu- dent sind unzählige andere „Westler“ vor und nach ihm der Faszination des rie- sigen Subkontinents am anderen Ende der Welt erlegen, wollten ihn wahlweise erforschen und verstehen oder erobern – weder das eine noch das andere ist jemals ganz gelungen!

Geheimnisvoll, rätselhaft, widersprüchlich, unergründlich sind Adjektive, die immer wieder verwendet werden, um Indien zu charakterisieren. In den vielen Tau- send Jahren seiner Geschichte, von den ersten Hochkulturen bis heute, war Indien stets mehr als ein Land oder ein Staat: Ein gewaltiger, nahezu unüberschaubarer Mischtiegel von Völkern, Kulturen, Sprachen, Religionen und Bräuchen, die auf westliche Besucher je nach Einstellung befremdlich, abstoßend, faszinierend oder auch bedrohlich wirken mochten.

So vielfältig wie seine Kulturen sind auch die Traditionen des Bogenschießens auf dem indischen Subkontinent. Von den einfachen, aber effizienten Bambusbogen der Stammesangehörigen in den Bergen oder im Dschungel bis zu den reich verzierten indo-persischen Kompositbogen des Mogulreichs, von Kugelbogen zur Vogeljagd bis zu Meisterwerken der Schmiedekunst aus damasziertem Stahl reicht die Palette der Bogenwaffen, die in der Region entwickelt und verwendet wurden. Pfeil und Bogen spielten über tausende von Jahren eine wichtige Rolle auf der Jagd und im Krieg, in Kunst und Dichtung, in Religion und Aberglaube.

Doch in Europa, zumal in den deutschsprachigen Ländern, ist das Bogenschießen des indischen Subkontinents noch immer weitgehend unbekannt. Während die Briten zur Zeit ihrer Kolonialherrschaft zahlreiche Bogen, Pfeile, Köcher und anderes Zubehör in ihre Heimat verschifften, die heute in Museen und Sammlungen bewundert werden können, sind solche Artefakte in den meisten anderen europäischen Ländern eher selten zu finden. Deutschsprachige Literatur zum Thema ist ebenfalls Mangelware, doch auch anderswo sieht es nicht viel besser aus: Das Standardwerk „Indian Archery“ von G.N. Pant erschien vor mehr als 40 Jahren und befasst sich mehr mit Pfeil und Bogen in Literatur und Kunst als in der Praxis.

Höchste Zeit also, dass die vielfältigen Traditionen und Formen des Bogenschie- ßens auf dem indischen Subkontinent einem breiteren Kreis interessierter Leser näher gebracht werden. Der Autor und Bogenschütze Hendrik Wiethase hat die Region viele Male bereist und erkundet, hat verschiedene Formen des Bogenschie- ßens studiert und praktiziert und das Dhanurveda, das „Wissen vom Bogen“, in Europa bekannt gemacht. Er verfügt selbst über eine umfangreiche Sammlung indi- scher Bogen und Pfeile sowie über zahlreiche Kontakte zu Bogenschützen, Histori- kern, Ethnologen und anderen Experten auf diesem Gebiet.

Wie kaum ein Anderer war er also dazu geeignet, das vorliegende Buch über „Bogen und Pfeile des indischen Subkontinents“ zu verfassen, das sich in den kommenden Jahren als das neue Standardwerk zum Thema erweisen dürfte. Dafür sei ihm im Namen aller interessierten Leserinnen und Leser herzlich gedankt!

Jan H. Sachers
Historiker, Bogenschütze und deutscher Repräsentant der „Society of Archer-Antiquaries“

Einleitung

Dieses Buch kann nicht den Titel „Indisches Bogenschießen“ haben. Nicht des- halb, weil es bereits das Buch von G.N. Pant von 1978 mit diesem Titel (Indian Archery) gibt, sondern weil dieser Titel dem Inhalt dieses Buches nicht wirklich entsprechen kann. Tatsächlich gibt es kein „indisches Bogenschießen“ außer dem, was ich in meinen Büchern „Dhanurveda“ und „Dhanurvidya – Klassisches indi- sches Bogenschießen“ ausführlich beschrieben habe. Dennoch gab es den Bogen als Waffe und Jagdgerät bereits vor weit mehr als zehntausend Jahren, und es gibt noch heute Volksgruppen auf dem indischen Subkontinent, die mit dem Bogen jagen, wenngleich das von der indischen Regierung nicht gerne gesehen wird und genau genommen allgemein verboten ist. Zudem gibt es eine, wenngleich kleine, aber vielseitige Bogenszene in Indien, die auch olympisches Gold gewonnen hat und meistens nach olympischen/internationalen Vorgaben trainiert und schießt..

Wie viele Teile dieser Erde, hat auch der indische Subkontinent, insbesondere sein Norden, eine bewegte Geschichte. Dieses Buch soll also möglichst alle Bogen, Pfeile und was dazu gehört, erfassen, die auf diesem Subkontinent entstanden sind, oder durch eindringende Völker eingeführt wurden und somit die vorhandenen „indischen Bogen“ beeinflusst haben. Dazu gehören, politisch gesehen, auch die Andamanen und Nikobaren, wenngleich sie nicht Teil des indischen Subkontinents sind. Somit muss, um dem Leser einen Überblick zu ermöglichen, dieses Buch mit einem historischen Teil beginnen. Zudem werden die Bogenwaffen der eindringenden Völker und ihre Techniken beschrieben, da diese großen Einfluss auf die Entwicklung dieser Waffe auf dem Subkontinent hatten. Zuletzt, aber nicht minder ausführlich, sollen die indigenen Völker des indischen Subkontinents bearbeitet werden, so weit diese in Hinsicht auf den Bogen relevant sind. Dieses Gebiet scheint mir besonders wichtig und interessant zu sein, obwohl darüber sehr wenig Literatur vorhanden ist, da diese Volksgruppen von den eindringenden Völkern ent- weder vertrieben, benutzt oder als minderwertig betrachtet wurden. Eine indische Literatur über dieses Feld gibt es nahezu nicht. Hier haben zum Glück Briten, Franzosen, Deutsche und andere Europäer, dokumentierte Forschungen betrieben, und damit die Kultur der Eingeborenen vor der Vergessenheit bewahrt.

Tatsache ist, dass in den etwa 15 Büchern, die von offizieller Seite Anfang des 20. Jahrhunderts über die „Kasten und Eingeborenen Indiens“ verlegt wurden, lediglich ein einziges Foto eines eingeborenen Jungen mit Pfeil und Bogen existiert. Dem gegenüber stehen hunderte Fotografien, auf denen Eingeborene bei hinduistischen Veranstaltungen zu sehen sind.

Eigene Feldforschungen fließen in dieses Buch ein, können aber nur das widerspiegeln, was seit 2003 in Indien noch vorhanden war.
Am 21. Februar 2019, als ich mitten in der Arbeit an diesem Buches steckte, erschien in den indischen Zeitungen ein Artikel, der über eine Entscheidung des indischen Supreme Courts berichtet, die bis August dieses Jahres der indigenen Bevölkerung verbietet, weiterhin in den Waldgebieten Indiens zu leben. Damit wird ein noch schnelleres Verschwinden des verbliebenen Kulturgutes des indigenen Bogenschießens einher gehen. Die Folgen dieses Beschlusses sind noch nicht absehbar und stoßen auf große Gegenwehr.

Hendrik Wiethase im April 2019

270 Seiten mit mehr als 460 meist farbigen Fotos, 70 Grafiken und 15 Karten im Hardcover

ISBN 9783937632-33-9 für 67,00 €